Einleitung · Teil 1 · Teil 2 · Teil 3 · Teil 4
Wie ist das Papsttum entstanden?
53. Das Papsttum hat sich im Laufe vieler Jahrhunderte entwickelt.
Die römisch-katholische Kirche betrachtet sich mit der Urkirche in ununterbrochener Kontinuität stehend [70]. Das ist nicht richtig. Kirche und Papsttum haben sich über mehrere Jahrhunderte entwickelt; sie haben sich in dieser Zeit fundamental verändert:
54. Die frühkirchlichen Gemeinden wurden durch Älteste geleitet.
Die Begriffe Ältester (presbyteros), Bischof (episkopos) und Diakon (diakonos = Diener) bezeichnen im Neuen Testament eine Führungsfunktion in der lokalen Gemeinde; sie werden ohne Rangunterschied und uneinheitlich verwendet. Die Kompetenzen, Aufgaben und das Einsetzungsverfahren (Weihe) sind noch nicht festgelegt.
Erst im zweiten Jahrhundert wird die kollegiale Leitung durch Gemeindeälteste allmählich durch eine Bischofskirche mit einem Bischof an der Spitze abgelöst.
55. Die Kirche teilt sich in fünf gleichberechtigte Patriarchate auf.
In der Frühzeit der Kirche bildeten sich, der römischen Verwaltungsstruktur entsprechend, fünf Patriarchate heraus. Das römische Patriarchat deckte dabei das gesamte Gebiet des Weströmischen Reiches ab.
Die frühe Kirche hat dem Patriarchat von Rom gegenüber den anderen Patriarchaten ein Ehrenprimat oder „Primat der Liebe“ zugestanden – eine Ehrenstellung im Sinne eines Primus inter Pares („Erster unter Gleichen“), die aber weder einen qualitativ höheren Rang umfasste noch das Recht, ungefragt in die inneren Angelegenheiten anderer Patriarchate einzugreifen.
56. Die „Petrusverheißung“ spielt über Jahrhunderte keine Rolle.
Die Petrusverheißung (Mt 16,18) wird in der ganzen christlichen Literatur der ersten Jahrhunderte nur einmal zitiert: bei Tertullian [71], der die Stelle aber nur auf Petrus, nicht auf Rom bezieht. [72]
Als dominierende Zentralidee der kirchlichen Stellung Roms wird die Petrusverheißung erst seit dem Ende des 4. Jahrhunderts genannt. [73]
57. Das Konzil von Nicäa lehnt eine Vorrangstellung des Bischofs von Rom ab.
Das vom römischen Kaiser Konstantin [74] einberufene Konzil von Nicäa (325) beschließt die sogenannte „Metropolitanverfassung“, die den Bischöfen von Alexandria, Rom, Antiochien und den anderen Exarchien ausdrücklich ihre Vorrechte garantiert:
Die alte Sitte soll in Ägypten, Libyen und Pentapolis Bestand halten, dass der Bischof von Alexandria über dies alles die Obergewalt inne hat, da auch dem Bischof von Rom dies zukommt. Auf gleiche Weise sollen sowohl der Kirche von Antiochien als auch den anderen Exarchien den Kirchen ihre Vorrechte gewahrt bleiben. [75]
58. Die „Konstantinische Schenkung“ ist eine Fälschung der Kirche.
Bei der Konstantinischen Schenkung (Constitutum Constantini oder Donatio Constantini) handelt es sich um eine Urkunde, die angeblich um 315/317 vom römischen Kaiser Konstantin I. († 337) ausgestellt wurde.
[Darin] habe Konstantin dem römischen Bischof den Vorrang über alle anderen Kirchen, d.h. über die Patriarchate von Konstantinopel, Antiochia, Alexandria und Jerusalem verliehen. Außerdem bekam der Papst die kaiserlichen Insignien und Vorrechte verliehen (das Diadem, den Purpurmantel, das Zepter und das Prozessionsrecht). Schließlich wurde ihm auch die Herrschaft über ganz Italien und den gesamten Westen überlassen. Konstantin überlässt ihm auch den Lateranpalast und leistet als Zeichen der Unterwürfigkeit den Stratordienst, d.h. den rituellen Dienst eines Stallknechts, indem er das päpstliche Pferd führt. Er verlegt seinen Regierungssitz von Rom nach Konstantinopel, und Silvester tritt die Herrschaft über den gesamten Westen, das Abendland an. Das gefälschte Dokument begründet somit den Anspruch der römischen Kirche auf Ländereien und die Weisungsbefugnis über alle anderen Ortskirchen und verleiht dem Papst einen Rang, der dem kaiserlichen vergleichbar ist. [76]
Die wohl größte Rolle in der Kirchengeschichte spielte das Dokument beim Streit zwischen der West- und Ostkirche Mitte des 11. Jahrhunderts. Der Vertreter der römischen Kirche nutzte das Constitutum, um das Patriarchat Rom auf- und Konstantinopel abzuwerten. Der Streit – bei dem es ursprünglich nur um liturgische Fragen ging – eskalierte immer weiter und führte schließlich zum bis heute andauernden Schisma (1054). Im 15. Jahrhundert wiesen Gelehrte nach, dass es sich bei dem Dokument um eine Fälschung aus dem 8. oder 9. Jahrhundert handelt.
Seit dem frühen 17. Jahrhundert vertrat die katholische Kirche die Auffassung, die Urkunde sei zwar gefälscht, doch habe es wirklich eine Schenkung Konstantins gegeben, und die Fälschung sei von den Griechen begangen worden, also nicht im Dienst des Papsttums. Erst im 19. Jahrhundert hat der katholische Gelehrte Ignaz Döllinger nachgewiesen, dass die Behauptung eines griechischen Ursprungs und nachträglicher Übersetzung ins Lateinische haltlos ist. Der Vatikan hat im selben Jahrhundert die Fälschung eingestanden. [77]
59. Die nordafrikanische Kirche behielt ihre eigene Jurisdiktion.
Zosimus (Bischof von Rom 417–418) und Coelestin I. (Bischof von Rom 422–432) hatten Schwierigkeiten mit der nordafrikanischen Kirche, die Entscheidungen der römischen Kirche nicht anerkennen wollte. (Es ging hauptsächlich um die Absetzung des Presbyters Apiarius und die Verurteilung des Pelagius.) Coelestin versuchte, das Appellationsrecht afrikanischer Kleriker durchzusetzen, d.h. Rom sollte Berufungsinstanz für causae maiores sein. Die nordafrikanische Kirche beharrte jedoch in beiden Fällen auf der eigenen Jurisdiktion.
Erst mit der Eroberung der römischen Provinz Africa durch die Vandalen im Jahr 429 endete diese Selbständigkeit.
60. Der Hl. Augustinus weiß nichts von einem Jurisdiktionsprimat Roms.
Bonifatius I. (Bischof von Rom 418–422) verbot Mitgliedern anderer Patriarchate weitere Appellationen, wenn Rom eine Entscheidung getroffen hat (siehe Nr. 59). Er nannte Rom apostolicum culmen („apostolische Spitze“). Hingegen war für seinen Zeitgenossen, den in Nordafrika [78] lebenden Kirchenlehrer Augustinus (354–430), ebenso wie für die übrige damalige (nichtrömische) Kirche, das Konzil die höchste Instanz.
61. Das Konzil von Chalcedon gewährt Rom nur einen „Ehrenvorrang“
Das Konzil von Chalcedon (Viertes Ökumenisches Konzil, 451) teilte die Kirche in fünf Patriarchate auf: Rom und Konstantinopel [79] gleichberechtigt mit einem gewissen Vorrang vor Alexandrien, Antiochien und Jerusalem:
Dem Sitz des Alten Rom gaben die Väter gebührenderweise den Vorrang, da es die Kaiserstadt war. Diesem Impuls folgend, verliehen die 150 gottgefälligen Bischöfe auch dem hochheiligen Sitz von Neu-Rom [Konstantinopel] den gleichen Vorrang, da sie in rechter Weise folgerten, dass die Stadt, welche die Ehre erhielt, Stadt des Kaisers und der Regierung zu sein, und die gleichen Vorzüge besitzt wie das Alte Rom, auch in kirchlichen Angelegenheiten gleich jenem erhöht worden sei und nach ihm der zweite [Sitz] sei. [80]
Der Primat des Römischen Bischofs wurde also nicht von der Sukzession dieses Bischofs vom Apostel Petrus her verstanden, sondern auf Grund der politischen Bedeutung Roms als Hauptstadt des Reiches. Ebenso ergab sich die Vorrangstellung des Sitzes von Konstantinopel nicht aus seinem Alter (die Sitze von Jerusalem, Alexandrien und Antiochien waren älter) und nicht aus irgendwelchen anderen kirchlichen Begründungen, sondern einzig aus der politischen Bedeutung Konstantinopels als „Stadt des Kaisers und der Regierung“. [81]
62. Der Begriff papa („Papst“) wird erst von Gregor I. offiziell eingeführt.
Der Titel „Papst“ (vom lateinischen papa = Vater) war ursprünglich eine allgemeine Ehrenbezeichnung für Kirchenmänner und Patriarchen. Siricius († 399) war der erste Bischof von Rom, der den Titel „Papst“ als Eigentitel führte. Aber erst Gregor der Große (Bischof von Rom 590–604) schrieb den Begriff „Papst“ als ausschließliche Amtsbezeichnung für den Bischof von Rom gesetzlich fest. [82]
63. Noch 879 gilt die Jurisdiktion des Papstes nur für den Westen.
Beim gesamtkirchlichen Konzil von 879 in Konstantinopel wird bestätigt, dass die Jurisdiktion für die gesamte Westkirche (die römische Kirche) gilt – für die übrigen Patriarchate wird sie klar abgelehnt. Dort hat der Bischof von Rom weiterhin nur das „Ehrenprimat“.
Wie sieht die Kirche heute aus?
64. Die katholische Kirche ist nicht die eine Kirche, als die sie sich darstellt.
Innerhalb der Westkirche stellt sich die katholische Kirche stellt sich oft als die eine „Mutterkirche“ dar. Dieser Eindruck täuscht. Sie besteht aus sehr vielen Teilkirchen, die ganz unterschiedliche Riten, Ämter und Strukturen haben.
65. Wenn von „katholisch“ die Rede ist, ist meistens „lateinisch“ gemeint.
Im westlichen Sprachgebrauch wird fast immer der Begriff „katholische Kirche“ oder „römisch-katholische Kirche“ verwendet, wenn eigentlich „lateinische Kirche“ (genauer: „katholische Kirche im lateinischen Ritus“) oder „römische Kirche“ gemeint ist. [83] Denn zur (römisch-)katholischen Kirche gehören auch die der Ostkirche entstammenden unierten Kirchen.
Vieles von dem, was gemeinhin als ‚typisch katholisch‘ angesehen wird, so der priesterliche Zölibat, die direkte Ernennung von Bischöfen durch den Papst und zahlreiche Eigenheiten der Liturgie und des Kirchenrechts, trifft in Wirklichkeit nur auf die lateinische Kirche zu. Die meisten katholischen Teilkirchen östlicher Prägung erlauben dagegen beispielsweise die Weihe verheirateter Männer zu Priestern, wählen in vielen Fällen ihre eigenen Bischöfe, die vom Papst nur bestätigt werden, und lehnen sich in ihrem kirchlichen und liturgischen Leben auch sonst eng an die Tradition ihrer orthodoxen Herkunftskirchen an. [84]
Auch der Codex Iuris Canonici (Codex des kanonischen Rechtes, das Gesetzbuch der katholischen Kirche) gilt nur für die lateinische Kirche.
Sie entwickelte sich aus dem Patriarchat von Rom (siehe Nr. 55) und stellt nur eine Teilkirche innerhalb der Gesamtkirche dar. Sie wird auch Westkirche genannt, weil es im Ursprung das gesamte Gebiet des Weströmischen Reichs abdeckte. Die Ostkirche entwickelte sich aus dem Patriarchat von Konstantinopel. Die Patriarchate von Alexandrien, Antiochien und Jerusalem verloren später an Bedeutung; die aus ihr hervorgegangenen Kirchen werden heute zur Ostkirche gezählt.
Ost- und Westkirche trennten sich 1054 (Morgenländisches Schisma) [85]. Von fast allen ostkirchlichen Patriarchaten gibt es „unierte“ Zweige; die sich im Laufe der Geschichte von ihrer Mutterkirche gelöst und wieder an Rom angenähert haben. Sie erkennen den Papst als Oberhaupt der Weltkirche an, feiern aber den Gottesdienst nach eigenen Riten und stehen in ihrer Tradition und Hierarchie den orthodoxen Mutterkirchen nahe.
Folgende Kirchen gehören – wie die lateinische Kirche – zur katholischen Weltkirche:
Unierte Kirchen
im Byzantinischen Ritus:
- Apostolische Administratur für Südalbanien
- Bulgarisch-Katholische Kirche
- Georgisch-Katholische Kirche
- Griechisch-Katholische Kirche
- Italo-albanische Kirche
- Griechisch-Katholische Diözese in Kroatien
- Apostolisches Exarchat von Serbien-Montenegro
- Apostolisches Exarchat von Mazedonien
- Melkitische Griechisch-Katholische Kirche
- Rumänische Griechisch-Katholische Kirche
- Ruthenische Griechisch-Katholische Kirche
- Griechisch-Katholische Kirche in der Slowakei
- Apostolisches Exarchat in der Tschechischen Republik
- Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche
- Ungarische Griechisch-Katholische Kirche
- Unierte Katholiken in Weißrussland
- Unierte Katholiken in Russland
- Kasachische Griechisch-Katholische Kirche
im Alexandrinischen Ritus:
- Äthiopisch-Katholische Kirche
- Koptisch-Katholische Kirche
im Westsyrischen/Antiochenischen Ritus:
- Maroniten
- Syrisch-Katholische Kirche
- Syro-Malankara Katholische Kirche (Thomaschristen)
im Ostsyrischen/Chaldäischen Ritus:
- Chaldäisch-Katholische Kirche
- Syro-Malabarische Kirche
im Armenischen Ritus:
- Armenisch-Katholische Kirche
Die orthodoxen Kirchen betrachten sich ebenfalls als die ursprüngliche christliche Kirche, von der sich alle übrigen Kirchen im Laufe der Geschichte abgespalten bzw. entfernt haben. Anders als die unierten Kirchen erkennen sie den Papst als Oberhaupt nicht an:
Orthodoxe Kirchen
Altkirchliche Patriarchate:
- Ökumenisches Patriarchat von Konstantinopel
- Patriarchat von Alexandria und ganz Afrika
- Patriarchat von Antiochia
- Patriarchat von Jerusalem
Patriarchate der nachkaiserlichen Zeit:
- Patriarchat von Georgien
- Patriarchat von Bulgarien
- Patriarchat von Moskau und ganz Russland
- Patriarchat von Serbien
- Patriarchat von Rumänien
weitere autokephale (eigenständige) Kirchen:
- Autokephales Orthodoxes Erzbistum von Zypern
- Autokephales Orthodoxes Erzbistum von Griechenland
- Autokephales Orthodoxes Erzbistum von Polen
- Autokephales Orthodoxes Erzbistum von Albanien
- Autokephales Orthodoxes Erzbistum Tschechiens und der Slowakei
- Orthodoxe Kirche in Amerika
weitere autonome Kirchen (hier nicht aufgeführt)
Altorientalische Kirchen
Orientalisch-orthodoxe (monophysitische) Kirchen:
- Äthiopisch-Orthodoxe Tewahedo-Kirche
- Armenische Apostolische Kirche
- Eritreisch-Orthodoxe Tewahedo-Kirche
- Koptische Kirche
- Malankara Orthodox-Syrische Kirche
- Syrisch-Orthodoxe Kirche von Antiochien
- Assyrische Kirche des Ostens
Nicht zur Weltkirche gehören – nach der Meinung des Vatikans – die „kirchlichen Gemeinschaften“, die aus der Reformation des 16. Jahrhunderts hervorgegangen sind:
Die genannten kirchlichen Gemeinschaften, die vor allem wegen des Fehlens des sakramentalen Priestertums die ursprüngliche und vollständige Wirklichkeit des eucharistischen Mysteriums nicht bewahrt haben, können nach katholischer Lehre nicht ‚Kirchen‘ im eigentlichen Sinn genannt werden. [86]
66. Auch die römische Kirche ist keine einheitliche Gemeinschaft.
Nicht einmal die römische oder lateinische Kirche ist ein so einheitliches Gebilde, wie sie sich – im Gegensatz zu den vielen protestantischen Kirchen – selbst immer wieder darstellt. Zu ihr gehören Traditionalisten wie die Vereinigungen „Una voce“ und „Pro Sancta Ecclesia“, Reformbewegungen wie „Wir sind Kirche“, die Friedensbewegung „Pax Christi“, der Katholische Arbeiterverein und der Bund Katholischer Unternehmer, Arbeiterpriester, Charismatiker, Schweigeorden, Anhänger der Befreiungstheologie usw., die inhaltlich nicht weniger voneinander entfernt sind als die evangelischen Kirchen untereinander.
Und theologisch trennt die römische und die lutherische Kirche weit weniger als zum Beispiel „Una voce“ und „Wir sind Kirche“.
67. Die Größe der römischen Kirche gibt ihr keine Vorrangstellung.
Die römische oder lateinische Kirche hat weltweit die meisten Mitglieder. Das gibt ihr aber keinen höheren Rang. Sie ist nicht die größte Kirche geworden, weil sie den „richtigeren“ Glauben lehrt oder weil ihr Oberhaupt in der Nachfolge Petri steht; sie ist vor allem deswegen so groß geworden, weil die (katholischen) Machthaber Spaniens und Portugals den neu entdeckten Kontinent Amerika annektierten und ihre Bewohner – mit Segen und Unterstützung der Kirche – gewaltsam missionierten.
Hätten die Länder der Ostkirche in früheren Jahrhunderten auf ähnliche Weise kolonialisiert und missioniert, sähe die konfessionelle Weltkarte heute sicher anders aus.
68. Die Päpste sorgten auf fragwürdige Weise für die Einheit der Kirche.
Der Katechismus betont die Bedeutung des Petrusamtes und des Papstes für die Einheit der Kirche [87]. In den ersten Jahrhunderten sorgten die Bischöfe von Rom und später die Päpste für die Einheit, indem sie diejenigen, die eine abweichende Lehre vertraten, aus der Kirche ausschlossen. [88]
Zu den verurteilten Lehren gehören zum Beispiel Arianismus, Markionismus, Montanismus, Manichäismus, Adoptionismus, Apollinarianismus, Modalismus, Monophysitismus, Nestorianismus, Donatismus und Pelagianismus; in späterer Zeit: Protestantismus, Jansenismus, Gallikanismus, und Sozinianismus. Dabei waren die Anhänger dieser Lehren durchaus nicht immer unbedeutende Randgruppen. So hatten zum Beispiel die Arianer Mitte des 4. Jahrhunderts die politische und religiöse Vormachtstellung, die erst mit dem Ersten Konzil von Nicäa endete.
Später verschärften die Päpste den Kampf um die Einheit im Glauben durch Folter und Hinrichtungen. Zu den Opfern gehören zum Beispiel Amalrikaner, Apostelbrüder, Beginen und Begarden, Brüder und Schwestern des freien Geistes, Flagellanten, Fraticellen, Hussiten, Joachimiten, Katharer (Albigenser), Lollarden, Protestanten, Waldenser und Wiedertäufer.
69. Manche Maßnahmen für die Einheit der Kirche bewirken das Gegenteil.
Auch heute sorgen manche Entscheidungen des Papstes nicht für die Einheit, sondern für das Gegenteil: Als der Papst am 21. Januar 2009 die Exkommunikation der vier Bischöfe der Piusbruderschaft aufhob, ging es ihm ausdrücklich um die Einheit der Kirche:
Benedikt XVI. sieht es mit Recht als seine Pflicht an, für die Einheit der Kirche einzutreten. Nur das steht hinter seinen Bemühungen, eine Gruppe von Katholiken, die sich von der Kirche getrennt hat, wieder ins Boot zu holen. [89]
In der Folge stieg die Zahl der Kirchenaustritte rapide an. Spitzenreiter war das Bistum Regensburg: Dort verdoppelte sich die Zahl im Januar und Februar 2009 im Vergleich zum Vorjahr. [90]
Andererseits grenzt der Papst ganze Gruppen engagierter Katholiken aus: der von katholischen Christen gegründete Verein Donum vitae [91] sei „eine Vereinigung außerhalb der katholischen Kirche“; kirchlichen Funktionsträgern (einschließlich Laien, zum Beispiel in Kirchenvorständen und Pfarrgemeinderäten) wurde die Mitarbeit in diesem Verein verboten [92]; die Bischöfe wurden aufgefordert, darauf hinzuwirken, dass möglichst kein Gläubiger mehr die Hilfsorganisation unterstützt. [93]
Und das Oberste Gericht des Vatikans hat klar gestellt, dass Bischöfe das Recht haben, aktive Mitarbeiter der Vereinigung Wir sind Kirche [94] aus kirchlichen Gremien auszuschließen. In dem Dekret heißt es, dass derjenige, der sich den öffentlichen Protesten der Organisation gegen Papst, Bischöfe und Lehramt anschließe, sich unfähig für die Mitgliedschaft in kirchlichen Räten mache. [95]
Während der Papst von sich aus in einem „bedingungslosen Akt der Barmherzigkeit“ auf die Piusbruderschaft zuging, weigert sich die vatikanische Glaubenskongregation bis heute, die Petition Vaticanum 2 [96] der Initiative Wir sind Kirche und die Unterschriften von über 50.000 Gläubigen entgegenzunehmen und darüber mit den Initiatoren der Petition ins Gespräch zu kommen.
70. Der Papst muss weder von Kardinälen noch im Konklave gewählt werden.
Das aktuelle Verfahren der Papstwahl ist nicht die einzig mögliche Form. Im Laufe der Geschichte hat sich das Verfahren mehrfach geändert [97] – kann also auch in Zukunft wieder geändert werden.
- Die ersten Bischöfe von Rom wurden wahrscheinlich von den Gründern der römischen Gemeinde bestimmt; der Überlieferung nach waren dies Petrus und einige Mitarbeiter. .
- Dieses Wahlverfahren wurde sehr bald durch ein Verfahren abgelöst, bei dem die Kirchenvertreter und die Gläubigen eines Bistums sowie die Bischöfe der benachbarten Diözesen den jeweiligen Bischof bestimmten. .
- Etwa seit dem 3. Jahrhundert wurde das Oberhaupt der Kirche (der Bischof von Rom) von Kirchenvertretern, unter Aufsicht der anwesenden Bischöfe, gemeinsam bestimmt. Ihr Wahlvorschlag wurde den römischen Gläubigen mitgeteilt. Die Römer signalisierten ihre Zustimmung – oder gegebenenfalls Ablehnung – durch Tumulte. Dieses wenig klare Vorgehen führte mehrfach zur Wahl von Gegenpäpsten. .
- 769 wurde die Zustimmungspflicht der römischen Bevölkerung abgeschafft; 862 wurde das Recht den römischen Adligen wieder eingeräumt. .
- 769 wurde festgelegt, dass nur geweihte Priester Bischof von Rom werden dürfen. 1059 hatten nur noch Kardinäle das passive Wahlrecht. 1179 wurden die Bestimmungen wieder gelockert. Theoretisch kann auch heute noch jeder männliche Katholik zum Papst gewählt werden. [98] .
- Seit 1059 nimmt der Papst erst nach Zustimmung der übrigen Kirchenvertreter und der Gemeinde sein Amt auf. Das Papstwahldekret von Nikolaus II. war das erste Dekret, das für die Wahl feste Regeln aufstellte. [99] Es gibt die Möglichkeit, dass der künftige Papst nicht aus der römischen Kirche stammt, falls dort eine geeignete Persönlichkeit für diese Position fehlt. [100] .
- Seit 1139 müssen weder die übrigen Kirchenvertreter noch die Gemeinde zustimmen. .
- 1274 wurde das Wahlverfahren im Konklave geregelt. .
- 1587 wurde die Anzahl der wahlberechtigten Kardinäle auf 70 begrenzt; seit 1975 darf es maximal 120 wahlberechtigte Kardinäle geben. .
- Bis 1996 war es möglich, den neuen Amtsinhaber durch Akklamation (Abstimmung per Zuruf, Beifall oder Handzeichen) zu wählen. Der letzte Papst, der auf diese Weise ausgewählt wurde, war Gregor XV. im Jahre 1621.
Dr. Ludwig Neidhart – ein Verteidiger des Petrusamtes – schreibt dazu:
„Theoretisch könnte der Papst in Zukunft auch vom gesamten Kirchenvolk gewählt werden oder (was vielleicht angemessener wäre) vom gesamten Bischofskollegium. Die Frage ‚Papst ja oder nein‘ ist demnach also nicht identisch mit der Frage, ob die Kirchenleitung ‚von oben‘ eingesetzt oder durch ‚demokratische‘ Wahlen konstituiert werden soll. Die eigentliche Frage ist vielmehr, ob es überhaupt eine (wie auch immer zu konstituierende) Leitung und Repräsentation der Kirche auf Weltebene geben soll.“ [101]
Fazit
Ich habe den drei Bibelstellen 70 Argumente entgegengesetzt. Ich denke, das gibt mir das Recht, mit gutem Gewissen die Positionen der Kirche in Frage zu stellen.
Das heißt aber nicht, dass ich grundsätzlich gegen den Papst oder das Papstamt bin. Jeder Verein hat einen Vorsitzenden, jede Firma einen Geschäftsführer, jeder Staat ein Staatsoberhaupt. Es ist zweckmäßig, dass eine so gewaltige Institution wie die Kirche durch ein Oberhaupt regiert, geleitet oder repräsentiert wird. Um einen Papst mit der Macht eines Bundespräsidenten, der Weisheit eines Richard von Weizsäckers und der Weitherzigkeit eines Johannes XXIII. würden uns wahrscheinlich sogar die meisten evangelischen Christen beneiden.
Es geht mir um die Frage, welchen Auftrag und welche Macht dieses Oberhaupt hat. Und darum, von wem er (oder sie) Auftrag und Vollmacht hat.
Schlussbemerkungen
• Ich bin kein Theologe. Aber es war kein theologisches Fachwissen nötig, um diese Argumente zu sammeln. Und ich glaube, es ist auch kein Fachwissen nötig, um meinen Argumenten zu folgen.
• Die meisten Argumente in diesem Text stammen ohnehin nicht von mir, sondern sind schon früher von anderen Autoren genannt worden. Mir ist aber keine Quelle bekannt, die dieses Thema genauso umfassend behandelt.
• Der fundamentalistisch-katholische Einwand, ich sei schon deswegen im Unrecht, weil das unfehlbare Petrusamt das Gegenteil lehre, mag in anderen Fällen erlaubt sein; hier ist er unlogisch, weil es ja gerade darum geht, ob es das Petrusamt überhaupt gibt und – falls ja – ob es unfehlbar ist.
Hinweis zu den angegebenen Internetseiten
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Auch für andere Internetseiten gibt es ein digitales „Archiv“. Unter http://www.archive.org/ können „Snapshots“ von früheren Versionen eingesehen werden. (Es werden aber nicht alle Internetseiten archiviert.)
Literaturempfehlungen
Die folgenden Autoren sind teils Befürworter, teils Kritiker der offiziellen Lehre über das Papstamt.
Bischof Joseph Georg Strossmayer: „Der Papst und das Evangelium“
http://docs.google.com/anglicanhistory.org/oc/strossmayer_rede.pdf
Prof. Dr. Karl Heinz Ohlig: „Das Papstamt und seine Geschichte“
http://www.phil.uni-sb.de/projekte/imprimatur/2005/imp050705.html
P. Klaus Schatz SJ: „Geschichte des päpstlichen Primats“
http://www.sankt-georgen.de/leseraum/schatz2.html
Dr. Ludwig Neidhard: „Das Papstamt: Anmaßung oder biblisches Amt der Einheit?“
http://www.catholic-church.org/ao/ps/papst.html
Bischof Ignaz von Döllinger: „Offener Brief an den Erzbischof Gregor von Scherr“
http://de.wikisource.org/wiki/Offener_Brief_an_den_Erzbischof…
Pfarrer Dr. Jörg Sieger : „Zu Papst, Konzil und Gewissen“
http://www.joerg-sieger.de/glaube/themen/papst.htm
(auch seine anderen Seiten sind lesenswert!)
Danksagung
Ich danke besonders
- Sir Timothy John Berners-Lee – Gründer des World Wide Web,
- der Deuschen Bibelgesellschaft für die Online-Bibel www.bibleserver.com,
- Jimmy Donal Wales – Gründer der Internet-Enzyklopädie Wikipedia
- und den zahllosen Autoren, die unentgeltlich für Wikipedia arbeiten.
Ohne sie wäre es mir unmöglich gewesen, diesen Aufsatz zu schreiben.
Aus technischen Gründen stimmen die folgenden Nummern der Fußnoten nicht mit den Fußnoten-Nummern im Text überein. (Das Programm beginnt die Zählung auf jeder Seite mit 1.) Die Verlinkung der Fußnoten funktioniert aber!
[[81]]Aus dem Vortrag des orthodoxen Bischof Hilarion „Primat und Katholizität in der Orthodoxen Tradition“, gehalten auf der Tagung der Theologischen Kommission der Schweizer Bischofskonferenz, Basel, 24. Januar 2005; http://orthodoxeurope.org/page/14/57.aspx [[81]]
- http://de.wikipedia.org/wiki/Katholische_Kirche↵
- Quintus Septimius Florens Tertullianus (150 bis ca. 230) war ein früher christlicher Schriftsteller.↵
- http://de.wikipedia.org/wiki/Papst-Primat↵
- Prof. Dr. Klaus Schatz SJ in seinem Vortrag „Historische Erfahrungen mit dem päpstlichen Primat“ (undatiert)↵
- Konstantin war zu dieser Zeit noch kein Christ. Er „hatte seit etwa 313 (Toleranzedikt von Mailand) das Christentum privilegiert. Konstantin erhoffte sich wohl vom Christentum eine stabilisierende Wirkung für die eben erst wiedergewonnene Einheit des Römischen Reiches. Diese völkerverbindende Funktion war durch den arianischen Streit gefährdet. Eine Spaltung der Kirche drohte. Da das Problem von der Kirche allein nicht gelöst werden konnte, drängte der Kaiser auf eine Beendigung des Streites.“ http://de.wikipedia.org/wiki/Erstes_Konzil_von_Nicäa↵
- http://de.wikipedia.org/wiki/Patriarchat_(Kirche)↵
- Beide Zitate in diesem Absatz aus: http://de.wikipedia.org/wiki/Konstantinische_Schenkung↵
- Fünf Jahre später wurde der Kirchenhistoriker und Theologe Dr. Ignaz Döllinger exkommuniziert.↵
- Er lebte in der Küstenstadt Hippo, heute Annaba, im äußersten Nordosten Algeriens.↵
- Wegen der zunehmenden Bedeutung des östlichen Teils des Römischen Reiches gründete der römische Kaiser Konstantin I. im Jahr 330 die neue Residenzstadt Konstantinopel am Bosporus (heute: Istanbul). Das „alte Rom“ verlor danach rasch an politischer Bedeutung.↵
- Kanon 28 des Konzils von Chalcedon↵
- ↵
- Aus diesem Grund habe ich seine Vorgänger nicht als „Papst“ bezeichnet, sondern unter dem korrekten Titel „Bischof von Rom“ geführt.↵
- In Deutschland ist die Bezeichnung „katholisch“ namensrechtlich geschützt und darf ohne unterscheidenden Zusatz als Bezeichnung nur für Einrichtungen und Veranstaltungen der römisch-katholischen Kirche benutzt werden. http://de.wikipedia.org/wiki/Katholische_Kirche↵
- http://de.wikipedia.org/wiki/Lateinische_Kirche↵
- „Oft wird als Datum für das Schisma 1054 angegeben, als Papst Leo IX. den Patriarchen von Konstantinopel exkommunizierte, aber tatsächlich handelte es sich um einen Prozess, der sich etwa vom 5. bis ins 15. Jahrhundert hinzog. Heute stimmen Historiker darin überein, dass Ostkirche und Westkirche sich aufgrund einer fortschreitenden Entfremdung trennten, die mit dem Wachstum der päpstlichen Autorität zusammenfiel. Entscheidend für die Trennung waren nicht theologische Differenzen, sondern kirchenpolitische Faktoren.“ http://de.wikipedia.org/wiki/Morgenländisches_Schisma↵
- Kongregation für die Glaubenslehre: „Antworten auf Fragen zu einigen Aspekten bezüglich der Lehre über die Kirche“ (2007)↵
- siehe Kapitel 5.3: „Das Petrusamt als Dienst der Einheit“↵
- Exkommunikation galt im Mittelalter als schwerste Bestrafung – und wurde auch so empfunden, da sie die einzelne Person vom Leib Christi, seiner Kirche, trenne und somit die Erlösung verhindere. Die Exkommunikation oder die Androhung der Exkommunikation genügten oft, Häretiker zum Abgehen von ihren Überzeugungen zu bewegen.↵
- Kardinal Christoph Schönborn; http://www.themakirche.at/panorama/articles/2009/09/25/a3792/↵
- Umgekehrt wäre aber genauso damit zu rechnen, dass viele Menschen die Kirche verlassen oder sich der Piusbruderschaft zuwenden, wenn der Papst zum Beispiel das Pflichtzölibat aufheben oder Frauen zur Priesterweihe zu lassen würde.↵
- Ziel des Vereins von katholischen Bürgerinnen und Bürgern ist die Sicherstellung einer Schwangerschaftskonfliktberatung mit dem Ziel, „sich für den Schutz des menschlichen Lebens, namentlich den Schutz des Lebens ungeborener Kinder einzusetzen und Frauen in Schwangerschaftskonflikten mit Rat und Tat nahe sein zu wollen“. http://de.wikipedia.org/wiki/Donum_vitae↵
- http://www.br-online.de/bayerisches-fernsehen/rundschau/donum-vitae-katholiken-bischof-ID1244537797966.xml
Diese Entscheidung ist besonders bemerkenswert, weil bis 1999 sechsundzwanzig von siebenundzwanzig deutschen Bischöfen (einzige Ausnahme: Bischof Dyba im Bistum Fulda) die Schwangerschaftskonfliktberatung in ihren Diözesen unterstützten. Ebenfalls bemerkenswert: Der derzeitige Vorsitzende des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), der Politiker Alois Glück, ist Mitglied von Donum vitae; die Politikerin Maria Eichhorn, Mitglied im ZdK, ist sogar Vorsitzende von Donum Vitae in Bayern.↵ - http://www.nrw-donumvitae.de/presse/pressespiegel/presse-2006–2007/↵
- http://www.wir-sind-kirche.de/ und http://de.wikipedia.org/wiki/Wir_sind_Kirche↵
- http://www.radiovaticana.org/ted/Articolo.asp?c=290133↵
- „Mit einer am 29. Januar 2009 gestarteten Petition fordern zahlreiche Theologinnen und Theologen sowie Christinnen und Christen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die uneingeschränkte Anerkennung der Beschlüsse des II. Vatikanischen Konzils (1962–65). Damit reagieren sie auf die am 24. Januar bekannt gewordene äußerst problematische Aufhebung der Exkommunikation von Bischöfen der traditionalistischen Bruderschaft Pius X.“ http://www.petition-vaticanum2.org/index.html↵
- Die folgenden Fakten stammen von der Seite http://de.wikipedia.org/wiki/Konklave.↵
- Auch andere hohe kirchliche Ämter sind nicht an die Priesterweihe gebunden: Noch 1858 ernannte Papst Leo XIII. den Juristen Theodolfo Mertel zum Kardinal, obwohl er keine geistlichen Weihen hatte. http://de.wikipedia.org/wiki/Theodulf_Mertel↵
- Allerdings hielt man sich bereits 1073 nicht an diese Regelung. Der bedeutendste Papst des 11. Jahrhunderts, Gregor VII., wurde vom römischen Volk zum Papst ausgerufen. Er trug mit Kaiser Heinrich IV. den Investiturstreit aus, der im Winter 1077 im Gang nach Canossa kulminierte.↵
- Papstwahldekret „In nomine Domine“ (1059); http://de.wikipedia.org/wiki/In_nomine_Domini↵
- Dr. Ludwig Neidhart: „Das Papstamt: Anmaßung oder biblisches Amt der Einheit?“; http://www.catholic-church.org/ao/ps/papst.html↵