Ein­lei­tung · Teil 1 · Teil 2 · Teil 3 · Teil 4

Meinte Jesus nur Petrus oder auch alle seine Nachfolger?

43. Die erwähnten Bibelstellen beziehen sich nur auf Petrus.

Kei­ne der drei Bibel­stel­len (Mt 16,18–19; Joh 21,15; Lk 22,32) ent­hält einen Hin­weis dar­auf, dass Jesus nicht nur Petrus, son­dern alle Nach­fol­ger im Amt des Bischofs von Rom mein­te. Auch im übri­gen NT gibt es dar­auf kei­nen Hinweis.

Das bestä­tigt sogar der Katechismus:

Offen­kun­dig ist in allen die­sen Tex­ten nicht aus­drück­lich von einer Nach­fol­ge in den amt­li­chen Funk­tio­nen des Petrus, also von einem Petru­s­amt in der Kir­che, die Rede. [45]

44. Die Kirche erklärt nicht, warum Jesus trotzdem alle Nachfolger meinte.

Obwohl in der Bibel nir­gend­wo aus­drück­lich von einer Nach­fol­ge in den amt­li­chen Funk­tio­nen die Rede ist, sehen die Autoren des Kate­chis­mus dennoch …

[…] einen deut­li­chen Hin­weis dar­auf, daß die Petrus­funk­ti­on auch noch über den Tod des his­to­ri­schen Petrus hin­aus von nicht nur his­to­ri­scher, son­dern auch von aktu­el­ler Bedeu­tung war. […] Dazu kommt, daß Mt 16,18 von der Zukunft spricht (‚Auf die­sen Fel­sen wer­de ich mei­ne Kir­che bau­en‘) […] Es gibt also schon inner­halb des Neu­en Tes­ta­ments Hin­wei­se für eine Fort­dau­er der Funk­ti­on des Petrus als Fel­sen­grund der Kir­che und als blei­ben­der Garant des Glau­bens (vgl. Lk 22,32).

• Das erklärt nicht, war­um die Petrus-Nach­fol­ger die Zusa­gen bean­spru­chen kön­nen, die Jesus dem Petrus gemacht haben soll. Dass die „Petrus­funk­ti­on“ bis heu­te heu­te fort­dau­ert, wird nie­mand bestrei­ten. [46] Es geht um die Voll­mach­ten, die damit ver­bun­den sind.

• Aber selbst für „eine Fort­dau­er der Funk­ti­on des Petrus“ fin­det der Kate­chis­mus nur „Hin­wei­se“. Auf solch schwa­chem Grund kön­nen kei­ne abso­lu­ten Wahr­hei­ten (zum Bei­spiel das Dog­ma der Unfehl­bar­keit) begrün­det werden.

• Wenn Mt 16,18 von der Zukunft spricht, sind damit nicht die Nach­fol­ger des Petrus gemeint. Petrus konn­te noch etwa 36 Jah­re lang für die Kir­che Chris­ti wir­ken [47] – genug, um den Futur in Mt 16,18 zu erklä­ren. Außer­dem spricht der Kate­chis­mus aus­drück­lich von „der Funk­ti­on des Petrus als Fel­sen­grund“, dem Fun­da­ment der Kir­che. Das Fun­da­ment wird aber nur ein­mal gelegt, braucht also kei­ne Nach­fol­ger. [48]

• Lk 22,32 ist ein Auf­trag – kei­ne Garan­tie. Die­ser Bibel­vers ist also eben­falls unge­eig­net, die „Über­trag­bar­keit“ der Petrus-Voll­mach­ten zu begründen.

45. Es ist unklar, ob Petrus jemals in Rom gewirkt hat.

„Dann ver­ließ er sie und ging an einen ande­ren Ort.“ (Apg 12,17) Das sind die letz­ten Wor­te über Petrus nach sei­ner wun­der­sa­men Befrei­ung aus dem Ker­ker des Hero­des Anti­pas. In den übri­gen 16 Kapi­teln der Apos­tel­ge­schich­te wird Petrus mit kei­nem Wort mehr erwähnt. Es über­rascht, dass Lukas (der Autor der Apos­tel­ge­schich­te) über den wei­te­ren Weg des Ober­haupts der Kir­che nichts zu berich­ten weiß.

Auch Pau­lus igno­riert ihn: Im Römer­brief – ver­fasst ca. 56 bis 58 n. Chr., also noch zu Leb­zei­ten des Petrus! – grüßt er nament­lich 23 Mit­glie­der der Gemein­de in Rom. Petrus, angeb­lich Bischof von Rom und Ober­haupt der Kir­che, nennt er nicht.

Erst Ende des zwei­ten Jahr­hun­derts, also mehr als hun­dert Jah­re nach sei­nem ver­mu­te­ten Tod, bil­det sich die Tra­di­ti­on her­aus, die römi­sche Gemein­de sei von Petrus und Pau­lus gegrün­det wor­den. Für Pau­lus trifft das defi­ni­tiv nicht zu, denn den Römer­brief – den er schrieb, bevor er zum ers­ten Mal nach Rom reis­te –, rich­tet er an die dort bereits exis­tie­ren­de Gemeinde.

Der Alt­phi­lo­lo­ge Otto Zwier­lein schreibt:

„Es ist oben gezeigt wor­den, daß der Ver­fas­ser des soge­nann­ten ers­ten Cle­mens­brie­fes [49], den man am bes­ten in die Jah­re 120–125 n. Chr. datiert, nichts von einem Auf­ent­halt des Petrus in Rom weiß und auch kei­ne Kennt­nis hat von einer Ver­fol­gung und dem Mar­ty­ri­um des Petrus und des Pau­lus unter Nero […]. Die Vor­stel­lung, daß Petrus nach Rom gekom­men sei, scheint sich frü­hes­tens in der Aus­ein­an­der­set­zung mit den gnos­ti­schen Häre­ti­kern ent­wi­ckelt zu haben […], also nicht vor dem Zeit­raum 150–154.“ [50]

Auch wenn man davon aus­geht, dass Petrus in Rom wirk­te: er war mit Sicher­heit nicht Bischof von Rom, denn die­ses Amt oder etwas Ver­gleich­ba­res gab es zu sei­nen Leb­zei­ten noch nicht. Eine mon­ar­chisch-epi­skopa­le Lei­tung bil­de­te sich in Rom frü­hes­tens um das Jahr 130 her­aus. Bis dahin wur­den die Gemein­den kol­le­gi­al durch meh­re­re Pres­by­ter gelei­tet. [51]

46. Die Päpste sind keine Nachfolger des Petrus.

Der Papst­pri­mat beruht auf der Annah­me, dass die Päps­te Amts­nach­fol­ger des ers­ten Bischofs von Rom sind. Wenn Petrus aber nicht Bischof von Rom war, dann kön­nen sich die spä­te­ren römi­schen Bischö­fe und Päps­te nicht als Nach­fol­ger Petri bezeich­nen. [52]

47. Niemand dachte an eine Petrus-Nachfolge.

Als ich mit die­sem Auf­satz fast fer­tig war, stieß ich im Inter­net auf das Buch „Geschich­te des päpst­li­chen Pri­mats“ des katho­li­schen Kir­chen­his­to­ri­kers Prof. Dr. Klaus Schatz SJ (Frank­furt, 1990) [53]. Ich war sehr über­rascht, als ich vie­le mei­ner Vor­be­hal­te bestä­tigt fand:

Die wei­te­re Fra­ge, ob über Simon-Petrus hin­aus an ein blei­ben­des Amt gedacht ist, dürf­te, rein his­to­risch gestellt, nega­tiv zu beant­wor­ten sein, also in der Fra­ge­stel­lung: Dach­te der his­to­ri­sche Jesus bei der Beauf­tra­gung des Petrus an Nach­fol­ger? War sich der Ver­fas­ser des Mat­thä­us-Evan­ge­li­ums, also nach dem Tode des Petrus, bewußt, daß Petrus und sein Auf­trag jetzt in den auf ihn fol­gen­den römi­schen Gemein­de­lei­tern fort­lebt? (…) Wenn wir wei­ter fra­gen, ob sich die Urkir­che nach dem Tod des Petrus bewußt war, daß sei­ne Voll­macht auf den jet­zi­gen Bischof von Rom über­ge­gan­gen ist, daß also der Gemein­de­lei­ter von Rom jetzt Nach­fol­ger Petri, Fels der Kir­che und damit Trä­ger der Ver­hei­ßung nach Mt 16,18ff ist, dann muß die­se Fra­ge, so gestellt, sicher ver­neint werden.

Der Autor nennt Grün­de für die Über­zeu­gung, dass Petrus in Rom wirk­te, dort zum Mär­ty­rer wur­de und begra­ben wor­den ist, und schreibt weiter:

Kon­kre­te Ansprü­che im Sin­ne eines Pri­mats über die gan­ze Kir­che wer­den jedoch aus die­ser Über­zeu­gung nicht abge­lei­tet. Hät­te man einen Chris­ten um 100, 200 oder auch 300 gefragt, ob der Bischof von Rom Ober­haupt aller Chris­ten ist, ob es einen obers­ten Bischof gibt, der über den ande­ren Bischö­fen steht und in Fra­gen, die die gan­ze Kir­che berüh­ren, das letz­te Wort hat, dann hät­te er sicher mit Nein geantwortet.

Damit argu­men­tiert Prof. Dr. Klaus Schatz SJ ganz in mei­nem Sin­ne – er kommt aber über­ra­schen­der Wei­se zum umge­kehr­ten Ergebnis:

Aber ist die­se Fra­ge rich­tig gestellt? Muß nicht die Ant­wort nega­tiv lau­ten, wenn man mit dem Ras­ter unse­rer moder­nen ent­wi­ckel­ten Pri­mats­leh­re und gar des 1. Vati­ka­nums an die ers­ten Jahr­hun­der­te her­an­geht? Ist es nicht unhis­to­risch, so zu fra­gen? Und ist dar­um die selbst­ver­ständ­lich nega­ti­ve Ant­wort auf die so gestell­te Fra­ge schon eine nega­ti­ve Vor­ent­schei­dung für die theo­lo­gisch gemein­te Sache?

Mir wird nicht klar, was genau „die theo­lo­gisch gemein­te Sache“ sein soll. Doch er schreibt in der Einführung:

Die­ser Pri­mat ist damit für das katho­li­sche Kir­chen­be­wußt­sein ein Struk­tur­ele­ment, das im öku­me­ni­schen Gespräch nicht zur Dis­po­si­ti­on steht und ohne das eine vol­le Kir­chen­ge­mein­schaft nicht mög­lich ist. Denn er ist nach katho­li­scher Über­zeu­gung, wie die­se in dem genann­ten Kon­zil ihre lehr­amt­li­che Sank­tio­nie­rung erfah­ren hat, im Wil­len Chris­ti und im Petrus des Neu­en Tes­ta­ments grundgelegt.

Also geht der Klaus Schatz davon aus, dass der Pri­mat „im Wil­len Chris­ti und im Petrus des Neu­en Tes­ta­ments grund­ge­legt“ ist, obwohl Jesus, Petrus, die Urkir­che, der Ver­fas­ser des Mat­thä­us-Evan­ge­li­ums und die Chris­ten der ers­ten Jahr­hun­der­te sicher nicht an einen Petrus-Nach­fol­ger dach­ten. Eine Erklä­rung dafür habe ich in sei­ner „Geschich­te des päpst­li­chen Pri­mats“ nicht gefun­den. [54]

Es mag sein, dass Prof. Schatz die theo­lo­gi­sche Begrün­dung für den Papst­pri­mat woan­ders fin­det. Dann stellt sich aber die Fra­ge, war­um die Kir­che im Kate­chis­mus, im Codex Iuris Cano­ni­ci, in Kon­zils­tex­ten usw. durch­weg nur auf die drei Bibel­stel­len ver­weist, die eigent­li­chen Grün­de aber nicht nennt.

Selbst wenn man der Leh­re der Kir­che folgt, dass Jesus Petrus die Unfehl­bar­keit zuge­spro­chen hat und dass er nicht nur Petrus, son­dern alle sei­ne Nach­fol­ger mein­te (die Gegen­ar­gu­men­te habe ich bereits genannt), darf man bezwei­feln, dass die Päps­te in Glau­bens- und Sit­ten­fra­gen unfehl­bar sind. Das ist ein wei­tes The­ma; ich will hier nur kurz dar­auf eingehen.

48. Erst 1871 erklärte die Kirche den Papst als unfehlbar.

Die Bischö­fe von Rom bean­spruch­ten zwar schon recht früh die Ent­schei­dungs­ge­walt in Glau­bens­fra­gen, aber erst 1870 defi­nier­te die Kir­che, dass bestimm­te Ent­schei­dun­gen unfehl­bar sei­en. [55]

Unbe­kannt ist, wel­che frü­he­ren Lehr­aus­sa­gen als unfehl­bar zu gel­ten haben. Im Vor­wort des theo­lo­gi­schen Stan­dard­werks „Der Glau­be der Kir­che“ [56] heißt es:

Maß­ge­bend für die bin­den­de Kraft einer Lehr­ent­schei­dung ist immer der Wil­le der Kir­che, soweit er in der Urkun­de aus­ge­drückt ist. Nicht immer läßt sich daher die Fra­ge nach dem dog­ma­ti­schen Wert ganz ein­deu­tig beant­wor­ten. Es gilt hier die Absicht des kirch­li­chen Rechts­bu­ches: Wo die Absicht der Kir­che, end­gül­tig zu bin­den, nicht klar aus­ge­spro­chen ist, da hat man auch kein Recht, von einer unfehl­ba­ren Ent­schei­dung zu sprechen.

Gleich dar­auf heißt es aber:

In der vor­lie­gen­den Zusam­men­stel­lung sind die unfehl­ba­ren Ent­schei­dun­gen mit fett­ge­druck­ten Rand­zah­len belegt. [57]

Ein gro­ßer Teil [58] der 940 im Buch auf­ge­führ­ten Lehr­ent­schei­dun­gen hat fett gedruck­te Rand­zah­len, gilt also als unfehl­bar. Es han­delt sich aber fast aus­schließ­lich um „nega­ti­ve“ Aus­sa­gen – also um Ent­schei­dun­gen dar­über, wel­che Lehr­aus­sa­gen von Häre­ti­kern falsch sind. So heißt es zum Bei­spiel unter der Num­mer 746 (fett gedruckt):

Wer sagt, Ehe­an­ge­le­gen­hei­ten gehör­ten nicht vor den kirch­li­chen Rich­ter, der sei aus­ge­schlos­sen. [59]

Die­ser Lehr­satz der All­ge­mei­nen Kir­chen­ver­samm­lung zu Tri­ent (1563) ist gegen die Refor­ma­to­ren gerich­tet, die das sie­ben­te Sakra­ment nicht anerkannten.

Trotz lang­wie­ri­ger Recher­che im Inter­net konn­te ich nicht fest­stel­len, wel­che „posi­ti­ven“ Lehr­aus­sa­gen unfehl­bar und ver­bind­lich sind. Man­che Quel­len spre­chen von maxi­mal zehn bis zwan­zig unfehl­ba­ren Lehr­aus­sa­gen, ohne sie aber zu nen­nen. [60] Es scheint, als sei sich die Kir­che in die­ser Fra­ge selbst nicht einig:

49. Die Kirche sagt nicht, welche Lehren vor 1870 unfehlbar sind.

Die Leh­re der Kir­che hat sich im Lau­fe der Zeit immer wie­der geän­dert, am deut­lichs­ten wur­de das beim Zwei­ten Vati­ka­ni­schen Kon­zil. Vie­le Kon­zils­aus­sa­gen ste­hen im Wider­spruch zu frü­he­ren Lehr­aus­sa­gen. Wenn die­se frü­he­ren Lehr­aus­sa­gen von den dama­li­gen Päps­ten ex cathe­dra ver­kün­det wur­den, lässt das nur zwei Schlüs­se zu:

Ent­we­der ver­kün­de­te das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil Irr­leh­ren
 [61]
oder es gibt kei­ne Unfehlbarkeit.

Die Kir­che umgeht die­ses Dilem­ma, indem sie Leh­ren, die im Wider­spruch zu spä­te­ren Refor­men ste­hen, als „nicht unfehl­bar“ bezeich­net. Das ist leicht mög­lich, weil die for­ma­len Vor­schrif­ten für die Ver­kün­di­gung unfehl­ba­rer Lehr­aus­sa­gen erst vom Ers­ten Vati­ka­ni­schen Kon­zil fest­ge­legt wurden.

In man­chen Fäl­len hat es die Kir­che aber schwerer:

50. „Dignitatis humanae“ widerspricht „Quanta cura“

Papst Pius IX. bezeich­net 1864 (nur weni­ge Jah­re, bevor er das Dog­ma der päpst­li­chen Unfehl­bar­keit ver­kün­de­te) in der Enzy­kli­ka Quan­ta cura [62] die Gewis­sens- und Reli­gi­ons­frei­heit als „Wahn­sinn“:

Von die­ser abso­lut fal­schen Vor­stel­lung über die Regie­rung des Staa­tes, scheu­en sie sich nicht, die irri­ge Mei­nung zu begüns­ti­gen, wel­che für die katho­li­sche Kir­che und das Heil der See­len im höchs­ten Grad zum Unter­gang führt, die bereits Unser unmit­tel­ba­rer Vor­gän­ger seli­gen Andenkens, Gre­gor XVI., als Wahn­sinn bezeich­net hat, und zwar, die Gewis­sens- und Reli­gi­ons­frei­heit sei das eige­ne Recht eines jeden Menschen.

Als unfehl­bar gilt eine dog­ma­ti­sche Aus­sa­ge, die mit der For­mel „defi­ni­mus et decla­ra­mus“ („Wir defi­nie­ren und erklä­ren“) oder einer ver­gleich­ba­ren For­mu­lie­rung ein­ge­lei­tet wird. Der katho­li­sche Theo­lo­ge und Dog­ma­ti­ker Mathi­as Joseph Sche­eben (1835–1888) schreibt im „Hand­buch der katho­li­schen Dog­ma­tik“ über die Ein­lei­tung zu Quan­ta cura, dass sie genau der Struk­tur ent­spricht, die das Ers­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil für ex cathe­dra-Ent­schei­dun­gen vor­ge­se­hen hatte:

Eine der gegen­wär­ti­gen Defi­ni­ti­on fast wört­lich ent­spre­chen­den Fas­sung fin­det sich in der Ency­cli­ca ‚Quan­ta cura‘ vom 8. Dez.1864. [63]

Und der katho­li­sche Kir­chen­his­to­ri­ker Josef Kar­di­nal Her­gen­rö­ther (1824–1890) schreibt in dem von ihm begon­ne­nen Kir­chen­le­xi­kon [64]:

Betreffs der erwähn­ten 16 in der Ency­kli­ca selbst ange­führ­ten Sät­ze kann kein Zwei­fel bestehen, daß es sich bei ihnen um eine Ver­wer­fung kraft der unfehl­ba­ren höchs­ten päpst­li­chen Lehr­ge­walt han­delt; dieß geht klar aus der Ver­wer­fungs­for­mel her­vor. [65]

Mit der For­mu­lie­rung von der „abso­lut [!] fal­schen Vor­stel­lung“ über die Gewis­sens- und Reli­gi­ons­frei­heit des Men­schen macht auch Pius IX. selbst deut­lich, dass es sich hier nicht um eine „rela­ti­ve“ Aus­sa­ge handelt.

Also kann man davon aus­ge­hen, dass es sich bei Quan­ta cura um eine Lehr­aus­sa­ge ex cathe­dra han­delt. Die Ver­dam­mung der Gewis­sens- und Reli­gi­ons­frei­heit wäre dem­nach unfehl­ba­re Leh­re [66]. Das steht aber im Wider­spruch zum Zwei­ten Vati­ka­ni­schen Kon­zil. Denn das ver­kün­de­te in Digni­ta­tis hum­a­nae (1965):

Das Vati­ka­ni­sche Kon­zil erklärt, daß die mensch­li­che Per­son das Recht auf reli­giö­se Frei­heit hat. [67]

51. Päpste können auch in Glaubensfragen irren

Bischof Joseph Georg Stross­may­er zähl­te in sei­ner Rede vor dem Ers­ten Vati­ka­ni­schen Kon­zil wei­te­re Wider­sprü­che und Irr­tü­mer der Päps­te auf: [68]

Papst Vik­tor (192) bil­lig­te zuerst den Mon­ta­nis­mus, und nach­her ver­damm­te er ihn. Mar­cel­li­nus (296–303) war ein Göt­zen­die­ner. Er ging in den Tem­pel der Ves­ta und brach­te Weih­rauch die­ser Göt­tin dar. Sie wer­den sagen, dies war ein Akt von Schwä­che, aber ich ant­wor­te, ein Stell­ver­tre­ter Chris­ti stirbt, wird aber kein Abfäl­li­ger. Libe­ri­us (358) stimm­te der Ver­dam­mung des Atha­na­si­us zu, und bekann­te sich zum Aria­nis­mus, damit er von sei­ner Ver­ban­nung zurück­ge­ru­fen und wie­der in sein Amt ein­ge­setzt wür­de. Hono­ri­us (625) war ein Anhän­ger des Mono­the­le­tis­mus; Vater Gra­try hat es augen­fäl­lig bewie­sen. Gre­gor I. (578–90) heißt Jeden den Anti­chris­ten, wel­cher sich als all­ge­mei­nen Bischof titu­li­ren läßt; und umge­kehrt, Boni­fa­zi­us III. (607–608) ver­an­laß­te den vater­mör­de­ri­schen Kai­ser Pho­cas, daß er die­sen Titel ihm ver­lieh. Pas­cal II. (1088–1099) und Euge­ni­us III. (1145–1153) auto­ri­sir­ten das Duell, wäh­rend Juli­us II. (1509) und Pius IV. (1560) es ver­bo­ten. Euge­ni­us IV. (1431–39) hieß das Base­ler Kon­zil und die Kelch­ver­lei­hung an die böh­mi­sche Kir­che gut, wäh­rend Pius II. (1458) die­se Kon­zes­si­on wider­rief. Hadri­an II. (867–872) erklär­te bür­ger­li­che Hei­ra­then für gül­tig; aber Pius VII. (1800–23) ver­damm­te sie. Six­tus V. (1585–90) ver­öf­fent­lich­te eine Aus­ga­be der Bibel und emp­fahl durch eine Bul­le deren Lesung. Pius VII. ver­damm­te das Lesen der­sel­ben. […] Aber war­um bli­cken wir hin auf so fer­ne Bewei­se? Hat nicht unser hier gegen­wär­ti­ger hei­li­ger Vater in sei­ner Bul­le, wel­che die­ses Kon­zil regel­te, im Fall sei­nes Todes (wäh­rend der Sit­zun­gen die­ses Kon­zils) Alles wider­ru­fen, was in ver­gan­ge­ner Zeit dem­sel­ben ent­ge­gen­steht, selbst wenn es von der Ent­schei­dung sei­ner Vor­gän­ger aus­ge­gan­gen ist? Und gewiß, wenn Pius IX. ex cathe­dra gespro­chen hat, so ist es nicht, als wenn er von der Tie­fe sei­nes Gra­bes sei­nen Wil­len den Kir­chen­be­herr­schern auf­er­legt. […] Ich wür­de nie fer­tig wer­den, ver­ehr­te Brü­der, wenn ich Ihnen die Wider­sprü­che der Päps­te und ihre Leh­re aus­ein­an­der­set­zen woll­te. Wenn Sie also die Unfehl­bar­keit des gegen­wär­ti­gen Paps­tes ver­kün­di­gen, so müs­sen Sie ent­we­der bewei­sen (was unmög­lich ist), daß die Päps­te nie sich wider­spro­chen haben, oder Sie müs­sen erklä­ren, daß der hei­li­ge Geist es Ihnen geof­fen­bart hat, daß die Unfehl­bar­keit des Papst­th­ums sich nur von 1870 datirt. Haben Sie die Kühn­heit, dies zu thun?

52. Die Päpste haben das Geschenk Gottes nicht angenommen.

1870 ver­kün­de­te die Kir­che das Dog­ma der Unfehl­bar­keit. Spä­tes­tens seit die­sem Zeit­punkt steht fest, dass die Kir­che (durch den Papst oder die Gemein­schaft der Bischö­fe) in der Lage ist, den ein­deu­ti­gen und unver­fälsch­ten Wil­len Chris­ti zu leh­ren. Ein­zi­ge Vor­aus­set­zung: Die Unfehl­bar­keit der Lehr­aus­sa­ge muss aus­drück­lich genannt sein (sie­he Nr. 50).

Seit­her sind nur zwei ex cathe­dra-Leh­ren ver­kün­det wor­den: das Dog­ma der Unfehl­bar­keit selbst und die leib­li­che Auf­nah­me Mari­ens in den Him­mel – 1950 unter Pius XII. Sein Nach­fol­ger, Johan­nes XXIII., ver­kün­de­te gleich zu Beginn sei­ner Amts­zeit, er beab­sich­ti­ge nicht, vom Dog­ma der Unfehl­bar­keit wei­te­ren Gebrauch zu machen. Auch sei­ne vier Nach­fol­ger haben sich nie ex cathe­dra geäußert.

Es ist uner­klär­lich, war­um sich die Kir­che nicht öfter auf den ein­deu­ti­gen und unver­fälsch­ten Wil­len Chris­ti beruft. Es gibt vie­le The­men, die die Kir­che heu­te bewe­gen, zum Beispiel:

  • Pflicht­zö­li­bat
  • Homo­se­xua­li­tät
  • Ehe­schei­dung
  • Schwan­ger­schafts­ver­hü­tung
  • Schwan­ger­schafts­kon­flikt­be­ra­tung
  • Befrei­ungs­theo­lo­gie
  • Inter­kom­mu­ni­on
  • Pries­ter­wei­he für Frauen
  • die Rol­le der Lai­en in der Kirche.

Zu allen die­sen The­men gibt es ein­deu­ti­ge Lehr­aus­sa­gen. Sie haben aber nicht den Anspruch der Unfehl­bar­keit, son­dern kön­nen genau­so revi­diert wer­den wie ande­re Leh­ren (zum Bei­spiel zu Kreuz­zü­gen, Inqui­si­ti­on, Ablass­han­del, zum koper­ni­ka­ni­schen Welt­bild usw.).

Sinn dog­ma­ti­scher Defi­ni­tio­nen sei es, „in einer aktu­ell hef­tig umstrit­te­nen Glau­bens­fra­ge eine ver­bind­li­che Ent­schei­dung her­bei­zu­füh­ren“. [69] Es wür­de der Kir­che und den Gläu­bi­gen sehr hel­fen, wenn die oben genann­ten Streit­punk­te durch eine unfehl­ba­re Aus­sa­ge geklärt wer­den wür­den. Es stellt sich die Fra­ge, ob die Päps­te der von Gott geschenk­ten Voll­macht nicht trauen.

Aus tech­ni­schen Grün­den stim­men die fol­gen­den Num­mern der Fuß­no­ten nicht mit den Fuß­no­ten-Num­mern im Text über­ein. (Das Pro­gramm beginnt die Zäh­lung auf jeder Sei­te mit 1.) Die Ver­lin­kung der Fuß­no­ten funk­tio­niert aber!



Foot­no­tes    (↵ returns to text)
  1. Katho­li­scher Erwach­se­nen-Kate­chis­mus, Deut­sche Bischofs­kon­fe­renz, 1985; Band 1, Sei­te 303
  2. Es müss­te viel­leicht noch geklärt wer­den, was der Kate­chis­mus an die­ser Stel­le mit der „Petrus­funk­ti­on“ meint.
  3. Jesus ist 4 v. Chr. gebo­ren. Das in Mt 16,18 beschrie­be­ne Gespräch fin­det etwa 29 n. Chr. statt. Der Kate­chis­mus gibt den Tod des Petrus mit ca. 65 n. Chr. an. Also hat­te Petrus noch etwa 36 Jah­re vor sich.
  4. Wenn Jesus sei­ne Kir­che auf dem Fel­sen Petrus gebaut hat, han­delt es sich um die (dama­li­ge) Gegen­wart. Wenn Jesus mit dem Futur die Nach­folger im Petru­s­amt mein­te, dann wür­de das bedeu­ten, dass die Kir­che nicht auf Petrus, son­dern erst auf sei­nen Nach­fol­gern erbaut wur­de.
  5. Der Ers­te Cle­mens­brief ist ein Brief von Cle­mens von Rom an die Gemein­de von Korinth. Der Brief, der nicht Bestand­teil des Neu­en Tes­ta­ments ist, wird immer wie­der benutzt, um die Anwe­sen­heit und den Tod des Petrus in Rom zu bele­gen.
  6. Prof. Dr. Otto Zwier­lein: „Petrus in Rom – Die lite­ra­ri­schen Zeug­nis­se“ (2009). In die­sem Buch weist der Autor nach, dass es die Mar­ty­ri­en von Petrus und Pau­lus nicht gege­ben hat. http://de.wikipedia.org/wiki/Otto_Zwierlein
  7. Quel­le: sie­he Fuß­no­te 11.
  8. Pro­fes­sor Karl Heinz Ohlig schreibt in „Das Papst­amt und sei­ne Geschich­te“ (2006): „Vie­les spricht dafür, dass die Tra­di­ti­on, bei­de Apos­tel, die mitt­ler­wei­le als die wich­tigs­ten gal­ten, für Rom zu bean­spru­chen, der Ten­denz ent­sprun­gen ist, die Gemein­de der Reichs­haupt­stadt mit den Anfän­gen des Chris­ten­tums zu ver­bin­den und ihr somit eine beson­de­re christ­li­che Legi­ti­mi­tät zu ver­lei­hen. Ähn­lich sind – typo­lo­gisch – auch ande­re wich­ti­ge Städ­te ver­fah­ren, die sich mit der Behaup­tung apos­to­li­scher Grün­dung ein wenig Glanz und Auto­ri­tät ver­schaf­fen woll­ten, bis hin zu Trier, dem ‚Rom des Nor­dens‘, das – als Nach­züg­ler – die Gebei­ne des Apos­tels Mat­thi­as für sich bean­spruch­te.“ http://www.phil.uni-sb.de/projekte/imprimatur/2005/imp050705.html
  9. http://www.sankt-georgen.de/leseraum/schatz2‑1.html
  10. Was nicht hei­ßen soll, dass sie dort nicht steht.
  11. Fast der gan­ze deutsch-öster­rei­chi­sche Epi­sko­pat war gegen die Ver­ab­schie­dung des Unfehl­bar­keits­dog­mas. http://de.wikipedia.org/wiki/Erstes_Vatikanisches_Konzil
  12. Neuner/Roos/Rahner/Weger: „Der Glau­be der Kir­che in den Urkun­den der Lehr­ver­kün­di­gung“, 1971, Regens­burg, 13. Auflage
    „Der Glau­be der Kir­che“ ist eine Samm­lung kirch­li­cher Lehr­aus­sa­gen. Die­ses theo­lo­gi­sche Stan­dard­werk ähnelt in Inhalt und Zweck dem „Enchi­ri­d­ion Sym­bo­lorum“ (sie­he Fuß­no­te 3), ist aber nicht chro­no­lo­gisch, son­dern the­ma­tisch sor­tiert.
  13. Wenn das stimmt, bin ich ver­lo­ren. Im Buch „Der Glau­be der Kir­che“ steht näm­lich, die Kir­che leh­re mit dem Anspruch der Unfehl­bar­keit: „Wer nicht die gan­ze kirch­li­che Über­lie­fe­rung annimmt, die geschrie­be­ne wie die unge­schrie­be­ne, der sei aus­ge­schlos­sen.“ (Nr. 85) Der Bann trennt mich nicht nur von der Kir­che, son­dern auch von Gott, und führt zum Aus­schluss vom Heil, denn „außer ihr [= außer­halb der Kir­che] wird kei­ner geret­tet.“ (Nr. 375) Immer­hin befin­de ich mich in guter Gesell­schaft mit Diet­rich Bon­hoef­fer (Luthe­ra­ner), Mar­tin Luther King (Angli­ka­ner), Frè­re Roger (Refor­mier­ter), Mahat­ma Gan­dhi (Hin­du), Mar­tin Buber (Jude) und dem Dalai Lama (Bud­dhist), die – nur weil sie nicht katho­lisch sind – eben­falls nicht geret­tet wer­den kön­nen, denn: „Dem römi­schen Papst sich zu unter­wer­fen, ist für alle Men­schen unbe­dingt zum Hei­le not­wen­dig“. (Nr. 430) Ich mache mir aber kei­ne Sor­gen, denn ich weiß (und hier wird mir auch Papst Bene­dikt unein­ge­schränkt zu­stim­men), dass Jesus ein grö­ße­res Herz hat als alle Päps­te zusam­men.
  14. Ich habe die fett gedruck­ten Zif­fern nicht gezählt; das Buch hat über 600 Sei­ten.
  15. Neuner/Roos/Rahner/Weger: „Der Glau­be der Kir­che“, Sei­te 474
  16. http://de.wikipedia.org/wiki/Dogma
  17. Davon ist zum Bei­spiel die „Pries­ter­bru­der­schaft St. Pius X.“ (FSSPX) über­zeugt. http://de.wikipedia.org/wiki/Priesterbruderschaft_St._Pius_X.
  18. http://www.domus-ecclesiae.de/magisterium/quanta-cura.teutonice.html
  19. M.J. Sche­eben, Hand­buch der katho­li­schen Dog­ma­tik I, Frei­burg i. Br. 1873 (Unver­än­der­ter Neu­druck 1925), 224
  20. Wet­zer und Welte’s Kir­chen­le­xi­kon XI, ver­öf­fent­licht in 1886, Her­der (Frei­burg im Breis­gau [etc.], St. Lou­is, Mo)
  21. Bei­de Zita­te fand ich in der sehr lesens­wer­ten Schrift „Digni­ta­tis hum­a­nae und Quan­ta cura – Die Ver­ur­tei­lung der Reli­gi­ons­frei­heit vor dem Zwei­ten Vati­ka­ni­schen Kon­zil“ von Prof. Rein­hold Sebott SJ; http://www.sankt-georgen.de/leseraum/sebott3.pdf
  22. Auch davon ist die „Pries­ter­bru­der­schaft St. Pius X.“ über­zeugt.
  23. http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_decl_19651207_dignitatis-humanae_ge.html
  24. „Rede Des Bischofs Stroß­may­er Über Die Unfehl­bar­keit des Paps­tes“, Köln 1872; http://anglicanhistory.org/oc/strossmayer_rede.pdf
  25. http://de.wikipedia.org/wiki/Unfehlbarkeit