Offener Brief an Kardinal Gerhard Ludwig Müller, Präfekt der Glaubenskongregation
• Wieder einmal erklärte Kardinal Müller, dass sich die Theologieprofessoren dem Lehramt der Kirche – also Bischöfen und Papst – unterordnen müssten. Auf den Seiten des Internetportals domradio.de heißt es:
“Das Lehramt der Bischöfe und des Papstes ist unmittelbar von Christus eingesetzt“, sagte Kardinal Müller im Interview mit domradio.de. (…) In der akademischen Theologie, erklärte Müller, sei die menschliche Vernunft Urheberin einer Lehre. Dies könne man nicht auf die gleiche Ebene stellen wie das Wort Gottes, das von der menschlichen Vernunft ergründet werden wolle.
Sehr geehrter Herr Kardinal Müller,
Ihre Argumentation kann ich nicht nachvollziehen. Zunächst einmal ist mir unbekannt, dass Christus das Lehramt der Bischöfe und des Papstes eingesetzt hätte. In der mir vorliegenden Bibel verliert Jesus kein Wort über ein Lehr‑, Bischofs- oder Papstamt oder über eine (institutionelle) Kirche. Kein Wunder – schließlich entwickelte sich das Bischofsamt erst ganz allmählich ab dem 2. Jahrhundert. (Bis dahin wurden die frühkirchlichen Gemeinden kollegial durch Gemeindeälteste geleitet.) Und ein Papstamt als Oberhaupt der gesamten (West-)Kirche gibt es erst seit dem 9. Jahrhundert (Viertes Konzil von Konstantinopel, 879/880). (Siehe auch: “Anmerkungen zum Petrusamt”, Nr. 53ff)
Aber ich muss gar nicht so weit in die Vergangenheit gehen: Im Jahre 1864 bezeichnete Papst Pius IX. (dem wir auch das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit verdanken und der im Jahre 2000 von Johannes Paul II selig gesprochen wurde) in der Enzyklika Quanta Cura die Religions- und Gewissensfreiheit als “Wahnsinn”:
„Von dieser absolut falschen Vorstellung über die Regierung des Staates, scheuen sie sich nicht, die irrige Meinung zu begünstigen, welche für die katholische Kirche und das Heil der Seelen im höchsten Grad zum Untergang führt, die bereits Unser unmittelbarer Vorgänger seligen Andenkens, Gregor XVI., als Wahnsinn bezeichnet hat, und zwar, die Gewissens- und Religionsfreiheit sei das eigene Recht eines jeden Menschen.“
Erst das Zweite Vatikanische Konzil widersprach mit Dignitatis humanae (1965) dieser Aussage des höchsten kirchlichen Lehramts.
Also wären nach Ihrer Logik die Theologen, die vor 1965 das Recht der Menschen auf Religions- und Gewissensfreiheit verteidigt hätten, im Unrecht gewesen. Erst nach dem Konzil hätten sie Religions- und Gewissensfreiheit predigen dürfen (besser: müssen). Das wiederum bedeutet
entweder, dass es tatsächlich erst seit 1965 göttlicher Wille ist, dass Menschen Religions- und Gewissensfreiheit haben (das glauben Sie doch nicht wirklich?)
oder dass sich Pius IX (und seine Nachfolger bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil) irrten. In diesem Fall sehe ich nicht ein, warum sich die theologische Forschung, die zu anderen Ergebnissen kommt, dem kirchlichen Lehramt unterwerfen soll.
Viele Irrwege der katholischen Kirche hätten vermieden werden können, wenn sich “das kirchliche Lehramt” mit kritischen Stimmen der Theologen auseinandergesetzt hätten, statt sie zu verbrennen, zu exkommunizieren oder ihr die kirchliche Lehrerlaubnis zu entziehen.
Mit freundlichen Grüßen
Klaus Kegebein