Es wird wieder viel auf den „Zeitgeist“ eingeprügelt – im Zusammenhang mit dem Synodalen Weg, der Frauenordination, der Abendmahlsgemeinschaft, der Rolle der Laien in der Kirche, der Sexualität, medizin-ethischen Themen usw.
Das Gift, das die Kirche lähmt, ist die falsche Meinung, man müsse sie dem Zeitgeist anpassen.
Kardinal Gerhard Ludwig Müller
Aber ist der „Zeitgeist“ wirklich so böse, wie immer behauptet wird?
Läuft die Kirche wirklich dem „Zeitgeist“ hinterher?
Wer oder was ist der „Zeitgeist“ eigentlich? Der DUDEN definiert ihn als
die für eine bestimmte geschichtliche Zeit charakteristische allgemeine Gesinnung, geistige Haltung
Der „Zeitgeist“ ist also stetig im Wandel – wie auch die Kirche: Sie prägte auf dem letzten Konzil das Motto Ecclesia semper reformanda (Die Kirche muss sich ständig wandeln) – auch wenn sie sich damit gerade wieder sehr schwer tut.
Nicht der Kirche, sondern dem „Zeitgeist“ verdanken wir zum Beispiel
- die Abschaffung der Sklaverei
- die Ächtung der Todesstrafe
- die Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz
- die Demokratie
- die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
- die (relative) Gleichberechtigung der Frau usw.
Statt bei diesen Themen den „Zeitgeist“ anzuführen oder ihm wenigstens hinterherzulaufen, hat die Kirche oft nur zu bremsen versucht:
Sklaverei
Noch 1866 schrieb die Kongregation für die Glaubenslehre:
Slavery itself, considered as such in its essential nature,
is not at all contrary to the natural law or God’s law.
(Die Sklaverei selbst, als solche in ihrem Wesen betrachtet,
https://www.jesuit.ie/wp-content/uploads/2020/04/BillTonerSJ-Infallibility.pdf
verstößt keineswegs gegen das Naturrecht oder Gottes Gesetz.)
Menschenrechte
Papst Pius IX., dem wir auch das Dogma der Unfehlbarkeit zu verdanken haben, veröffentlichte 1864 die Schrift „Syllabus errorum“, eine Auflistung von 80 „Irrtümern“ der Moderne. Darin verurteilte er nahezu alles, was damals als modern galt, z.B. Liberalismus, Rationalismus und Menschenrechte.
Todesstrafe
Erst 2018 – also vor zwei Jahren! – wurde im Katechismus die Todesstrafe grundsätzlich verurteilt (siehe auch hier).
Statt den „Zeitgeist“ ständig zu dämonisieren, sollte sich die Kirche an seine Spitze stellen. Denn Jesus wollte die Welt nicht erhalten, wie sie ist, sondern zum Positiven verändern.
Das ständige Lamentieren über den bösen Zeitgeist ist nichts weiter als der Versuch, die Unbeweglichkeit der Kirche zu verteidigen.
Nachtrag:
Der Mainzer Bischof Kohlgraf hat sich ebenfalls zum Zeitgeist geäußert:
https://www.katholisch.de/artikel/29029-bischof-kohlgraf-kirche-und-theologie-waren-immer-zeitgeistig